WAZ Ge, 14.11.2023
GELSENKIRCHEN. Das pralle Leben bildet die durchweg erwachsene Schülerschaft des Gelsenkirchener Weiterbildungskollegs
Das Team des Weiterbildungskollegs setzt auf Rundum-Beratung für seine Studierenden, die mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten und Hintergründen an das Kolleg kommen. Foto: Ingo Otto / FUNKE Foto Services
Dass Anke Budde an einer Schule gelandet ist, die zum Abitur auf dem zweiten Bildungsweg führt, ist wohl kaum Zufall. Die als solche neu ernannte – und seit fünf Jahren bereits kommissarische – Leiterin des Weiterbildungskollegs (WBK) Emscher- Lippe in Resse war im ersten Leben Damenschneider-Meisterin. Am Aalto- beziehungsweise Grillotheater in Essen entwarf und schneiderte sie Kostüme für die Bühne, bevor sie wagte, die Bühne in ihrem Traumberuf anzusteuern: als Lehrerin für Kunst und Geschichte.
Nach ihrem Referendariat am Gauß-Gymnasium begann die heute 56-Jährige 2003 am Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe. Und blieb, überzeugt vom Wert dieser Arbeit und in Gelsenkirchen schon in der vierten Generation fest verwurzelt. Die Liste der dankbaren Absolventen ihrer Schule ist lang. Zahlreiche Schicksale stehen hinter diesen Abiturienten, die oft schon Kinder erziehen, in ihrem ersten Schulleben schlechte Erfahrungen gemacht haben oder im Berufsleben bemerken, dass sie vielleicht doch mehr wollen.
Mit 28 Jahren ohne Sprachkenntnisse aus Syrien gekommen: Heute Lehramtsstudent
So wie Nadine Gasser, die in ihrem Beruf als Zahnmedizinische Fachangestellte nicht unglücklich war, nach einem Schicksalsschlag jedoch noch einmal über ihre Lebensträume nachdachte. Und beschloss, es doch noch mit ihrem langgehegten Wunsch, Zahnärztin zu werden, zu versuchen. Sie arbeitete weiter in ihrem Beruf und arbeitete im Abendunterricht drei Jahre lang am WBK auf das Abitur hin. Mittlerweile arbeitet sie als Zahnärztin und sagt: „Diese dreijährige Schulzeit war die schönste Zeit meines Lebens. Es war erstaunlich, wie viele Mitschülerinnen und Mitschüler hochmotiviert das gleiche Ziel verfolgten, so unterschiedlich ihre Geschichten auch waren!“
Mohamad Jumaa Dirani kam als syrischer Kriegsflüchtling nach Gelsenkirchen, ohne Sprachkenntnisse. Nach Integrations- und Sprachkursen beschloss er, sein Abitur nachzuholen: Als 28-Jährigem mit noch geringen Sprachkenntnissen rieten ihm viele davon ab. Er meldete sich trotzdem am WBK an, fühlte sich gut aufgehoben und gefördert in dieser Schule, die großen Wert auf kulturelle Vielfalt legt. „Als ich mitten in den Abiturprüfungen an Corona erkrankte, Klausuren nachschreiben musste, haben mich Lehrer und Schulleitung sehr unterstützt. Dafür bin ich bis heute dankbar.“ Er schaffte sein Abi trotz der Hindernisse und studiert nun in Dortmund Sonderpädagogik.
Alleinerziehend mit Hartz-IV gestartet: Heute Kinderärztin am Uniklinikum Essen
Noch ein Beispiel: Julia leidet unter lange unerkanntem Asperger-Autismus. In der Regelschule ging sie deshalb unter, zumal ihr die Unterstützung in der Familie fehlte. Nach depressiven Phasen wagte sie einen neuen Anlauf zum Abitur am WBK. Kleine Klassen und sehr zugewandte Lehrkrä“e haben ihr geholfen. „Außerdem habe ich hier gelernt, zu sehen, was außerhalb der Komfortzone liegt und genau das zu machen. Die Schule hat mir sehr geholfen, offener zu werden“, sagt die junge Frau zurückblickend. Lesen Sie auch: Wo Schulabschlüsse tagsüber nachgeholt werden
Und dann war da noch die alleinerziehende Mutter zweier Töchter (3 und 8 Jahre), die von Hartz IV lebte. Mit 28 Jahren begann Nadia Feddahi ihr Studium am WBK, nach drei Jahren hatte sie das Abi mit der Traumnote 1,1 in der Tasche, heute arbeitet sie als promovierte Kinderärztin am Uniklinikum Essen und schreibt an ihrer Habilitation. Auch ihre Tochter studiert nun. „Sie betont immer wieder, dass sie kein Abitur gemacht hätte, geschweige denn ein Studium aufgenommen hätte, wäre ich nicht als Vorbild diesen Weg gegangen. Hätte ich es nicht getan, würde ich vermutlich immer noch Hartz IV beziehen oder als Reinigungskraft bei dm arbeiten. Und meine Töchter hätten auch nach Klasse 10 die Schule abgebrochen“, fürchtet sie.
In der Corona-Zeit haben viele umgeplant und neu mit dem Lernen begonnen
Lange Jahre boomten die Abendgymnasien mit ihrem Angebot des zweiten Bildungswegs. Doch als vor rund zehn Jahren die Berufskollegs gymnasiale Zweige mit dualen Angeboten aufbauten, brachen die Zahlen am bereits 1928 gegründeten Abendgymnasium in Gelsenkirchen und im ganzen Land ein. Seit Corona steigt die Nachfrage jedoch wieder. „Viele, die in Gastronomie oder ähnlichen Bereichen gearbeitet haben, in denen während der Corona-Krise nichts mehr ging, haben beschlossen, noch einmal ins Lernen zu investieren, um mehr Sicherheit zu gewinnen“, hat Budde festgestellt. Die verschiedensten Lernformate – wahlweise am Tag oder Abend bis hin zu Online-Möglichkeiten – sind attraktiv. Wer nicht sicher ist, ob es das Richtige für ihn oder sie ist, arbeitet hier zunächst tagsüber weiter, um den Job zu behalten, und lernt abends.
„Das tun zwar viele. Aber ebenso viele wechseln dann nach einem Jahr in den Tagesbetrieb, um sich ganz aufs Lernen konzentrieren zu können. Es gibt ja auch Bafög, wir beraten dazu“ erklärt Anke Budde, übrigens selbst zweifache, alleinerziehende Mutter. Überhaupt: Beratung ist dem 23-köpfigen Kollegium extrem wichtig. „Wir machen den Studierenden gleich am Anfang klar: Werdet euch klar darüber, was ihr wollt, welche Berufe oder ob eher ein Studium in Frage kommt. Arbeitgeber wie die Stadt Gelsenkirchen wollen für die Bewerbung früh ein Zeugnis, im zweiten Semester schon. Es kommt früh auch auf die Noten an“, betont Jörg Kramp, der als Sozialpädagoge eine Lehrerstelle besetzt. Unterstützung komme am WBK von allen Seiten, versichert auch Hannah-Lena Heinen, die den Abendbereich im Haus koordiniert.
Umfassende Beratung im Mittelpunkt dank guter Besetzung
Dass diese gute Unterstützung der 98 Studierenden im Abendbereich und 150 im Tagesbetrieb möglich ist, hat freilich auch mit der extrem guten Besetzung der Schule zu tun. Zwar hat Anke Budde schon – aus eigenem Antrieb, um zu helfen, wie sie betont – mehrere Lehrer (nur mit deren Einverständnis) abgegeben: an Grund- und Gesamtschule, Gymnasium und Berufskolleg sowie eine Antisemitismusberatungsstelle.
Die dennoch gute Besetzung rührt noch aus der Zeit des Studierendenansturms, mit 23 Lehrkräften inklusive Sozialpädagogen liegt man laut Anke Budde bei etwa 110 Prozent Gesamtquote, die Landesstatistik sagt 120. Die überdurchschnittliche Zahl hänge auch damit zusammen, dass man niemanden kurz vor dem Ruhestand zwangsversetzen mag, ergänzt Anke Budde noch.
Hinzu kommt freilich: Am WBK arbeiten ausschließlich Sek-II-Lehrkräfte. Und die dürfen Haupt- und Gesamtschulen nur begrenzt einstellen, Grundschulen ebenfalls nicht. Dabei bewegt sich vor allem an vielen Grundschulen die Besetzungsquote in Gelsenkirchen zwischen 60 und 80 Prozent. Wie gut eine ausreichende Besetzung wirken kann, gerade bei einer extrem heterogenen Schülerschaft mit schwierigsten Lernbedingungen: Das zeigt nicht zuletzt die Arbeit des WBK.
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Das sind die Voraussetzungen
Wer am Weiterbildungskolleg sein Abitur nachholen möchte, muss mindestens 18 Jahre alt sein, zwei Jahre lang sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben und die Schulpflicht hinter sich haben. Auch Ausbildungszeiten gelten, ebenso werden Pflege- und Erziehungszeiten sowie Bundesfreiwilligendienst angerechnet.
Vorkurse für Bewerber mit Hauptschulabschluss beginnen im Februar. Zur Fachhochschulreife führen danach vier Semester, zum Abitur zwei weitere. Mehr Informationen gibt es unter Telefon 0209 638414200 oder per Mail an weiterbildungskolleg@gelsenkirchen.de